Die Angst davor, bei meinen eigenen Kindern Medienerziehung machen zu müssen, war schon immer da. Liegt vielleicht auch an meiner besonders technikfernen Kindheit in DDR (kein Fernsehen) und der besonders technikfeindlichen Einstellung der Waldorfschule (kein Fernsehen!). Aber so wirklich in Worte fassen konnte ich meine Ratlosigkeit nicht. Obwohl es mit unseren vier und sechsjährigen Kindern langsam höchste Zeit wird, sich ein Konzept zu überlegen...
Auf den ersten Seiten von Dreißig Minuten, dann ist aber Schuss stellt Autorin Patricia Cammarata ein paar typische Streitpunkte mit Kindern dar. Probleme, auf die ich selbst nie im Leben gekommen wäre, die aber völlig einleuchtend und realistisch sind. Erst jetzt begreife ich, WIE dringend ich dieses Buch brauche!
Zusammenfassend kann man sagen, dass Patricia Cammarata Eltern dabei hilft, die richtigen Fragen zu stellen. Nicht wie lange, sondern was. Nicht ab welchem Alter, sondern wie. Nicht verbieten sondern erlauben und gemeinsam machen. Diese Fragen lassen sich mit beliebigen Plattformen, Geräten und Apps füllen. Das Kind will YouTube gucken? Einen eigenen Instagram Account oder wissen, wie Fortnite geht? Ganz egal. Die Strategie ist immer die gleiche: Macht Euch über das Angebot schlau (Altersbeschränkung, Datenschutz, Kosten, Inhalte) und falls ihr entscheidet, dass es erlaubt ist, guckt es Euch gemeinsam mit dem Kind an. Erst nach und nach - und natürlich dem Alter entsprechend verwenden die Kinder das Angebot dann allein.
Klar ist das nicht immer spannend oder spaßig, doch Cammarata weiß Eltern zu motivieren. Auch hier ist der Perspektivwechsel wieder sehr hilfreich:
Die Voraussetzungen für eine gelungene Medienerziehung
Die Vorraussetzungen für eine gelungene Medienerziehung sind eigentlich die gleichen, die auch für eine gelungene Erziehung entscheidend sind. Hierzu zitiert Cammarata die Medienpädagogen Martin Seligman und Franz Petermann:
- Wahrgenommen werden
- Den Interessen des anderen Beachtung schenken
- Gemeinsames tun
- Auf einer Wellenlänge sein
- Sich in den anderen hineinfühlen und seine Motive und Absichten erkennen.
Was in dieser Liste nicht vorkommt sind Medienzeitbegrenzungen und technische Filter oder Sperren. Diese Strategien führen nämlich nicht zum Ziel. Sie führen bei Eltern und Kindern zu Frust und verhindern jedes Ausbilden eigener Kenntnisse. Und sie führen zu einem weiteren, wichtigen Problem: Kinder sagen nicht Bescheid, wenn sie sich erschrecken.
Wie können sich Kinder vor Filmen, gruseliger Werbung oder grausamen Computerspielen erschrecken, wenn diese doch per Filter im Heimnetzwerk geblockt sind? Nun, die Kinder gucken dann eben bei den Freunden am Smartphone mit oder spielen bei den anderen Familien zuhause. Allerdings tun sie das dann verbotenerweise und haben natürlich deshalb eine große innere Hürde, sich bei Albträumen oder Furcht an die eigenen Eltern zu wenden. Ein "Hab ichs doch gesagt!" oder ein "Selbst Schuld!" wären dann natürlich für das Kind eine schreckliche Strafe.
Viele neue Begriffe
In Dreißig Minuten, dann ist aber Schluss! habe ich interessante neue Begriffe gelernt, die ich gerne an dieser Stelle weitergeben möchte:
Cybergrooming bezeichnet das Verhalten Erwachsener, die sich in sozialen Netzwerken oder Onlinespielen an Kinder wenden. Ihr Ziel ist es entweder online (zum Beispiel mittels zugeschickter Fotos) oder offline (bei Treffen) die Kinder sexuell auszunutzen. Hierbei spielen Einschüchterung, Schmeicheleien und Erpressung eine große Rolle. Bei einem Vorfall müssen unbedingt Beweise gesichert werden (z.B. mittels Screenshot) und Kontakt mit einer Jugenschutzstelle, wie zum Beispiel jugendschutz.net aufgenommen werden.
Sharenting bezeichnet das Verhalten von Eltern, die ihre Kinder über alle Maßen im Internet zur Schau stellen, sie gar zu kleinen Werbeträgern für die Produkte ihrer Kooperationspartner machen. Derzeit erleben wir wie eine Generation von Kindern in das Erwachsenenalter eintritt, deren Kindheit vom ersten Ultraschallbild bis zum Abschlussfoto der Universität komplett im Netz zu finden ist. Patricia Cammarata ruft dazu auf, gemeinsam mit den Kindern zu besprechen, welche Fotos gezeigt werden und welche nicht.
Adultismus bezeichnet das Vergnügen Erwachsener, Inhalte, die sich an Kinder und Jugendliche richten, per se als schwachsinnig abzutun. Dem Adultismus liegt ein Machtgefälle zugrunde. Im schlimmsten Fall setzen sich die Erwachsenen über die Meinungen und Bedürfnisse von Kindern einfach hinweg. Dieses Verhalten hinterlässt tiefe Narben und wirkt sich auf das ganze Leben aus.
Konkrete Beispiele für Herausforderungen
Es gibt viele Themen, die Kinder betreffen, auf die wir Erwachsenen in unserer Lebensrealität gar nicht kommen würden. Ich bin deshalb sehr dankbar dafür, dass Patricia Cammarata sehr nah an der Generation dran ist, die "das Internet" gerade für sich entdeckt.
Was mir im Gedächtnis geblieben ist:
YouTube ist für die Kinder wahnsinnig spannend. Auf dem Pausenhof werden die neuesten Videos der bekanntesten YouTube-Stars besprochen. In unserer Familie wird YouTube eigentlich nur für Musikvideos verwendet. Gut zu wissen, dass die großen Kanäle leider oft sehr traditionelle Rollenbilder transportieren. Doch auch hier ist ein Verbot nicht zielführend. Vielmehr helfen Gespräche darüber, wie Geschlechter in den einzelnen Videos dargestellt werden. Weitere Themen, die besprochen werden sollten: Schleichwerbung und der Tonfall in den Kommentarspalten.
WhatsApp ist unbestritten der beliebteste Messenger. Natürlich verwenden auch fast alle Kinder ihn. In diesem Buch gibt es praktische Tipps dafür, wie man ihn datenschutzkonform einrichtet (Adressbuch nicht synchronisieren!). Ein großes Thema bei den Kindern sind anscheinend Kettenbriefe. Der Umgang damit muss besprochen werden. Ebenfalls ein guter Tipp sind die Klassenchat-Regeln von Klicksafe.
Ultimativer Cammarata-Tipp: Wenn das Kind unbedingt eine neue App haben will (bspw. TikTok) dann kann man sie erstmal gemeinsam installieren und ein bisschen herumklicken. Das reicht ihnen meist schon um in der Schule mitreden zu können.
Wir müssen den Kindern klar machen: Das Internet ist keine eigene Welt. Es gibt keinen Unterschied zum sogenannten „echten Leben“. Das Internet ist das echte Leben. Hier gelten die gleichen Regeln: "Man beleidigt einander nicht, man nimmt aufeinander Rücksicht, man sagt Fremden nicht bei der ersten Begegnung wo man wohnt, und überlässt ihnen auch nicht seine Kreditkartennummer."
Ja das klingt alles nach furchtbar viel Arbeit und ist anstrengend. Aber es lohnt sich. Wir wollen dass die Kinder irgendwann in der Lage sind, Fake News zu erkennen, selbst daran zu denken, das Gerät beiseite zu legen und sich mithilfe von Spielen zu entspannen. Das werden sie aber nur lernen, wenn wir mit ihnen gemeinsam üben.
Nette Überraschung im Buch: Die Illustrationen von Katja Berlin
Das Buch Dreißig Minuten, dann ist aber Schluss ist bei eichborn erschienen und kostet 16,00€. Die ISBN-Nummer lautet 9783847900498. Ich danke dem Verlag für die Bereitstellung eines kostenfreien Rezensionsexemplars. Wer dem Link zum Buch folgt, gelangt zur Schlosserschen Buchhandlung in Augsburg. Hier kann man Onlinebestellungen machen und die Bücher portofrei nach Hause liefern lassen oder direkt im Buchladen abholen.
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