Kennst Du das Märchen von Rumpelstilzchen? Das kleine Männlein besucht die Königin und droht, ihr Kind zu holen. Der einzige Ausweg: Die Königin muss den Namen des Männleins erraten. In ihrer Not kommt der Königin der Jäger zu Hilfe, der das Männlein heimlich belauscht und den Namen herausfindet. Als das Kind der Königin geholt werden soll, verkündet diese stolz das Rätsel gelöst zu haben: "Heißest Du etwa Rumpelstilzchen?". Das Männlein erstarrt und ärgert sich so sehr darüber, dass es von der Königin überlistet wurde, dass es sich vor Wut selbst in zwei Teile reißt. Die Bedrohung für das Kind der Königin ist abgewendet.
Warum ich Dir das erzähle? Nun, mir geht es um die Moral von der Geschichte: Das Problem verliert seinen Schrecken, sobald es einen Namen bekommt.
An dieses Märchen musste ich oft denken, als ich mich mit dem Ratgeber zur Vorbeugung von sexuellem Missbrauch bei Kindern befasst habe. Ich merke es im Bekanntenkreis, in unserem Kindergarten und auch im Umfeld der Schule - viele Eltern haben Angst davor, dass ihr Kind missbraucht werden könnte, doch wenige wissen, wie man dem vorbeugt. Das Thema ist zu mächtig, zu schrecklich und zu schambehaftet, als dass man sich am Spielplatz darüber austauschen könnte. Ich verstehe das gut. Doch umso erleichterter bin ich, dieses Buch entdeckt zu haben: Kinder beschützen! Sexueller Missbrauch - Eine Orientierung für Mütter und Väter von Carmen Kerger-Ladleif.
Der Ratgeber richtet sich an Eltern und Erziehende, Pädagogen, Pädagoginnen und Angehörige - also an alle, die mit Kindern zu tun haben. In verschiedenen Kapiteln werden vielschichtige Informationen rund um Täter, Opfer, Gelegenheiten und Schutzmaßnahmen beschrieben. Man lernt das Zusammenspiel von Schweigen, Druck, Angst und Vorurteilen zu verstehen. Am Ende wird klar, dass man Hilfe braucht, um aus einer Situation von Missbrauch auszubrechen. Sowohl als betroffenes Kind, als auch als Eltern betroffener Kinder. Mir hat Kinder beschützen! dabei geholfen, das Problem besser zu erfassen und die Vorbeugemaßnahmen für meine Kinder zu verbessern.
Die Regeln in unserer Familie
Körperteile haben Namen und die werden verwendet.
Wenn die Vulva weh tut, dann benennen wir die Vulva, anstatt da unten zu sagen. Ein Penis ist ein Penis und dazu gehören zwei Hoden. Der innere Teil, hinter der Vulva heißt Vagina. Das versteht auch eine Dreijährige schon.
Der Grund, warum wir darauf so viel Wert legen: Man braucht Worte, um zu beschreiben, dass es ein Problem gibt. Sprachlosigkeit ist eine Ursache dafür, dass Opfer sich keine Hilfe suchen. Sie wissen in vielen Fällen nicht, wie man über das spricht, was ihnen passiert ist.
Stop heißt Stop.
Wenn wir mit den Kindern toben, kitzeln oder raufen, dann reagieren wir sofort auf alle Stopsignale. Sei es ein Nein, ein Halt oder ein veränderter Gesichtsausdruck. Der Grund dafür ist, dass wir wollen, dass unsere Kinder es normal finden, dass man ihre persönlichen Grenzen achtet. Sobald jemand diese Grenze überschreitet, sollen die Kinder misstrauisch werden. Täter rechnen mit der Ahnungslosigkeit von Kindern, deshalb kann dieses Wissen schützen.
Sex ist positiv besetzt.
Mit dem Thema Aufklärung sind wir bei uns daheim noch am Anfang. Der Sechsjährige stellt noch nicht so viele Fragen, aber alle Fragen die kommen, werden beantwortet. Wir achten darauf, dass Sex für ihn positiv besetzt ist, betonen aber gleichzeitig, dass das etwas ist, dass Erwachsene miteinander tun. Der Grund dafür ist, dass wir zunächst einmal das Thema positiv besetzen wollen, bevor wir von der Ausnahme, von Übergriffigkeit und Missbrauch berichten.
Wir erleben leider, dass andere Familien das Thema Sex sehr angst- und problembehaftet besprechen. Furcht vor körperlicher Nähe ist aber nicht das, was wir vermitteln wollen.
Diese 3-Punkte-Strategie fahren wir nun seit einigen Jahren. Das Buch Kinder beschützen! bestärkt uns dabei. Es finden sich jedoch noch viele weitere Hinweise darin, die ich hier nur kurz anreißen kann. Der Ratgeber ist sehr dicht geschrieben und enthält neben Fakten, Tipps und Erklärungen auch viele Fallberichte. Ich habe nun wirklich das Gefühl, das Thema gut verstanden zu haben.
Einige Erkenntnisse aus dem Buch
Man sollte nicht den Eindruck erwecken, Kinder könnten sich allein gegen einen Täter wehren. Das können sie nämlich nicht. Sag-Nein-Kurse und Selbstverteidigung für Kinder mögen Eltern beruhigen, taugen aber nicht als alleinige (!) Strategie.
Die diffuse Warnung vor dem "bösen Mann" ist nicht hilfreich - und leider ein Klischee. Die Statistik zeigt, dass die Täter oft enge Vertraute der Kinder sind und aus dem Umfeld der Familie oder der Familie selbst stammen. Dass Kinder von Fremden angesprochen werden, kommt in sehr wenigen Fällen vor (diese erzeugen aber enormes Medienecho, wodurch die Wahrnehmung verzerrt wird). Der "böse Mann" erfüllt eher die gesellschaftliche Funktion, dass man das schwarze Schaf woanders sucht und nicht im eigenen Haus. Die Realität sieht anders aus.
Es ist ratsam, mit dem Kind zu besprechen, welche weiteren Vertrauenspersonen zur Verfügung stehen, wenn Mama und Papa nicht zu sprechen sind. Das können die Eltern von befreundeten Kindern sein, Nachbarn oder Erzieherinnen. Hier sollte man nicht stillschweigend davon ausgehen, dass das Kind schon was sagen wird, sondern gemeinsam überlegen, an wen es sich wenden kann, wenn es ein Problem hat. Die Statistik zeigt, dass Kinder im Durchschnitt 7 Personen ansprechen müssen, bevor jemand das Problem ernst nimmt.
Besonders interessant fand ich, dass auch die kindliche Sexualität erklärt wird. Dadurch lernt man einschätzen, was normal ist und was nicht. Übersexualisiertes Verhalten von Kindern kann ein Hinweis auf Missbrauch sein. Doch um die Abweichung zu erkennen, muss man wissen, wie Kinder ihren Körper entdecken. Besonders hilfreich sind da zum Beispiel die Regeln für Doktorspiele, die man gemeinsam mit den Kindern bespricht.
Der Autorin Carmen Kerger-Ladleif ist es sehr wichtig, dass Eltern auch weiterhin mit ihren Kindern Zärtlichkeiten austauschen, kuscheln und raufen. Solche körperlichen Kontakte sind ausdrücklich erlaubt und erwünscht: „Bleibt der Wunsch von Kindern nach (körperlicher) Nähe unbefriedigt, bleiben auch zentrale Bedürfnisse unerfüllt. Damit wächst die Gefahr, dass Dritte diesen Mangel wahrnehmen, die Lücke ausnutzen und Vertrauen und Geborgenheit aufbauen, mit dem Ziel, das Kind zu missbrauchen.” (Seite 46)
Hilfe für betroffene Familien
Auch Familien, in denen es zu Missbrauch gekommen ist, finden in dem Ratgeber von Carmen Kerger-Ladleif Unterstützung. Es gibt viele Informationen zu Anlaufstellen und Organisationen, die Beratung anbieten. Es wird Erläutert mit welchen Maßnahmen man rechnen muss und wie die Abläufe sind. Selbst ein Strafverfahren wird genau erklärt und man erfährt, wie so ein Verfahren aus rechtlicher und aus polizeilicher Sicht betrachtet wird.
Selbst der Fall, in dem Kinder selbst zu Tätern wurden und Übergriffe begangen haben, wird in Kinder beschützen! behandelt. Hier möchte ich zum Abschluss einen wichtigen Rat der Autorin weitergeben: „Wesentlich ist, dass sie nicht isoliert bleiben. Isolation ist ein Nährboden für bedrückende Geheimnisse.“
Fazit
Auch mir macht es wenig Spaß, mich mit sexuellem Missbrauch zu befassen. Doch noch weniger Spaß macht es, die vielen Mythen zu hören, die unter Eltern kursieren. Ich hoffe sehr, dass ich einen Ansporn dazu geben konnte, dass Eltern sich auf Basis von Expertenwissen dem Thema nähern und nicht auf Basis von Hörensagen. Das sind wir unseren Kindern schuldig.
Das Buch Kinder beschützen! von Carmen Kerger-Ladleif ist bei mebes&noack erschienen und kostet 19,90€. Die ISBN-Nummer lautet 978-3-927796-94-2. Ich danke dem Verlag für die Bereitstellung eines kostenfreien Rezensionsexemplars.
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